Fluch oder Segen? Die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit
Was ist Arbeit, was ist Freizeit? Oft wissen wir das selbst nicht mehr. Beides verschmilzt: Das ist das Phänomen des Work-Life Blending. Die Megatrends Digitalisierung und Globalisierung führen zu einer zunehmenden Entgrenzung von Arbeitszeit und –ort.
Im Zeitalter der Wissensarbeit findet Arbeit oft online statt. Wir alle sind in einem digital geprägten Lebensstil vermehrt mit der Erwartung konfrontiert, permanent online, permanent vernetzt und permanent bei der Arbeit sein zu müssen. So hat eine Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im letzten Jahr ergeben, dass in Deutschland über 1,8 Millionen Überstunden geleistet werden. Außerdem wird die Arbeitswelt unsicherer für junge Menschen: Sie bekommen nur noch befristete Arbeitsverträge und haben das Gefühl, schneller laufen zu müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Leistungsdruck ist hoch – und fängt schon in der frühen Kindheit an.
Beschleunigung auf allen Ebenen
Der deutsche Star-Soziologe Hartmut Rosa warnt deshalb auch vor einem kollektiven Burn-Out der modernen Gesellschaft. Während wir und die Gesellschaft immer schneller werden (weil wir in unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem dem Steigerungszwang unterliegen), verlieren wir die emotionale Bindung und wirkliche Beziehung zu Erfahrungen und Erlebnissen. (Rosa nennt es Resonanzverlust)
Rosa unterscheidet dabei drei Ebenen der Beschleunigung:
- Die technische: Beschleunigter Transport von A nach B. Auch die Kommunikation ist beschleunigt, durch das Internet. Und digital sind Produkte häufig schneller verfügbar als analog. So können wir uns heute über Online-Buttons innerhalb von einer Minute Tickets kaufen, Bücher aufs Tablet laden oder Filme downloaden. Gleichzeitig chatten wir mit Freunden über WhatsApp – eMails sind schon zu langsam … Diese zunehmende Geschwindigkeit erwarten wir überall.
- Des sozialen Wandels: Junge Menschen sind zunehmend bereit (oder müssen es schlichtweg), ihren Job, Wohnort und Freundeskreis zu wechseln – und das mit einer Frequenz, wie sie früher undenkbar war.
- Des Lebenstempos: Wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu tun – Schlaf in Form von Power Naps, Fast Food und Multitasking sind nur einige Beispiele. Und wir beobachten auch immer mehr, dass die Interaktionsfrequenz massiv ansteigt.
Diese Beschleunigung auf allen Ebenen führt dazu, dass uns auch in der Freizeit die Zeit knapp wird. Wie wir damit umgehen, ist aber vollkommen unterschiedlich. Die Bandbreite zwischen dem Wunsch nach einer strikten Trennung von Arbeitszeit und Freizeit oder deren absoluten Verschmelzung, ist vielfältig.
Individualisierung führt zu vollkommen unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen und Lebensläufen. Das heißt: Am Ende des Tages ist für junge Menschen ausschlaggebend, dass sie Arbeitszeit und Freizeit so autonom wie möglich planen können. Die Frage wird nur sein: Können Sie es auch? Ich vermute nicht …
Flexibilisierung von Arbeit
Viele Unternehmen versuchen, junge Menschen in ein Work-Life Blending Modell zu locken: Sie passen die Büroarchitektur und Dienstleistungen wie Frisör, Ärzte oder Fitnessstudio auf dem Gelände immer mehr einer Work-Life Blending Atmosphäre an. Und mit Flexibilisierungsmodelle hinsichtlich Arbeitszeit und –ort wird jungen Menschen ein hoher Freiheitsgrad an Selbstbestimmung „vorgegaukelt“ – am Ende siegt die Fremdausbeutung über die Selbstbestimmung. Naja, nicht immer. Es gibt auch Unternehmen, die jungen Menschen mit attraktiven Modellen zur besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit entgegenkommen.
Flexibilisierung von Arbeit: Ein paar Praxisbeispiele
- An Lebensphasen orientierte Arbeitszeit/Basisarbeitszeit/Wahlarbeitszeit: Firma Trumpf
- Jobsharing: Tandemploy
- 4-Tage-Woche: Google, Amazon, Frische Fische PR Agentur
- Remote Year
- Unbegrenzte Urlaubstage: Netflix, MyHotelshop
Immer bei der Arbeit, immer erreichbar, immer höher, schneller, weiter – um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben – das setzt schon junge Menschen unter Druck. Der Gesundheitsreport 2015 der Techniker Krankenkasse ist alarmierend: Der Anteil der psychosozialen Störungen bei jungen Menschen hat im Vergleich von 2009 zu 2014 um 20 Prozent zugenommen. Immer mehr junge Menschen haben Burn-Out und Depressionen: Zusätzlich zu Leistungsdruck und Beschleunigung haben wir immer mehr Social Media Freunde und werden sowohl im Alltag, als auch bei der Arbeit von Informationen überschüttet, die wir nicht alle verarbeiten können. Am Ende steht eine Entfremdung – zu anderen Menschen, zu sich selbst und zur Arbeit.
Einige junge Menschen – vor allem die gut qualifizierten, leisten Widerstand gegen diese Entwicklung. Sie weigern sich, die Karriereleiter im Eiltempo hochzuklettern – wenn sie denn überhaupt noch hochklettern wollen. Massig Überstunden anzuhäufen ist für sie kein Statussymbol mehr und viele lehnen das Angebot ab, Führungspositionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zu übernehmen. Wichtiger als eine steile Karriere ist ihnen eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Wieder andere steigen komplett aus dem klassischen Karrieremodell aus und probieren sich in der Selbstständigkeit. Und wieder andere hoffen, mit der Verschmelzung von Arbeitszeit und Freizeit sich ihre Zeit besser einteilen zu können.
Mit Work-Life-Blending umgehen
Was wir jungen Menschen dringend mit an die Hand geben müssen sind Coping-Strategien, um mit der zunehmenden Beschleunigung zurechtzukommen, statt sie massenhaft in Depressionen und Burn-out rennen zu lassen. Coping Strategien können sein:
- Sich bewusst Freiräume für „Nichts“ im Kalender vermerken
- Meditationstechniken erlernen, um wieder einen guten Zugang zu sich selbst zu finden
- Handyfreie Zeiten einplanen. Beispielsweise beim Essen bewusst das Handy auf die Seite legen, oder in Meetings die Handys in der Tasche lassen und sich auf die Menschen im Raum oder die Nahrungsaufnahme konzentrieren
- Vereinbarungen mit Freunden einhalten und nicht immer kurzfristig via WhatsApp Termine schieben und damit ungute Gefühle beim Gegenüber auslösen
- Feste regelmäßige Termine IMMER einhalten – also nicht für die Arbeit die Sporteinheiten mal ausfallen lassen
- Achtsamkeitstraining, um zu lernen, achtsam(er) mit Zeit zu haushalten und auch eine tiefere Verbindung zu Menschen, der Natur oder der Arbeit aufbauen zu können
Aber alleine werden wir es nicht schaffen, uns gegen den zunehmenden Beschleunigungsdruck aufzulehnen. Wir sind gefangen in einem gesellschaftlichen Phänomen. Und es ist die Aufgabe der Gesellschaft darüber zu diskutieren, wie wir zukünftig leben wollen. Auch die Unternehmen sind in der Pflicht, junge Menschen dabei zu unterstützen, in einer Beschleunigungsrealität nicht zu stolpern.
Meine Kolumne bei „Wirtschaftswoche Coach“
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