
Talent-Pipeline: Wo sind all die Roh-Diamanten?
Erfolg und Misserfolg von Unternehmen werden in unserer neuen VUKA-Welt immer stärker von Führungstalenten abhängig sein. Das heißt: Wir können uns bald keine Unternehmen mehr leisten, die mit mittelmäßigen Führungskräften ausgestattet sind. Es ist eine zentrale Aufgabe aller Unternehmen, Führungstalente zu finden, zu fördern und zu halten – um die Führungskräfte-Pipeline gut zu befüllen. Und das muss anders erfolgen als in der Vergangenheit üblich. Denn die Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die Führungskräfte in der Vergangenheit entwickelt und angewandt haben, reichen nicht mehr länger für eine weiterhin erfolgreiche Zukunft aus.
Warum das so ist? Weil sich aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung die Ansprüche der Konsumenten, ganze Märkte und Geschäftsmodelle radikal verändern, weil das Internet neue Kommunikations- und Vertriebswege eröffnet, weil sich die Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern verändern, weil der Wettbewerbsdruck deutlich steigt, die Veränderungsdynamik zugenommen hat und und und. Experten gehen davon aus, dass wir uns heute in einer neuen Ära der Talentsuche befinden. Nicht mehr die erlernten Kompetenzen entscheiden über Talent, sondern das Potenzial – die Fähigkeit, sich immer wieder in komplexe Aufgabengebiete und Unternehmensumfelder einarbeiten zu können, weil sich Anforderungen an eine Position und ganze Unternehmen schnell ändern können. Und zwar unabhängig davon, auf welcher Hierarchiestufe sich die Führungskraft befindet – vom Führungsnachwuchs bis hin zum Vorstand.
Die 4. Ära der Talentsuche
So wie wir uns aktuell in der 4. Industriellen Revolution befinden, steht uns eine neue Ära der Talentsuche bevor. Egon Zehnder differenziert zwischen 4. Ären.
1. Ära: Physische Fähigkeiten
Entscheidungen werden mit den physischen Fähigkeiten getroffen: Kriege gewinnen, Ernte einfahren, Hütten bauen, Handwerksberufe.
Diese Ära ist immer noch tief in uns verankert. Schlanke, muskulöse Menschen werden gegenüber anderen Menschen bevorzugt, weil wir unbewusst der Meinung sind, jene seien leistungsfähiger. Bspw. sind die CEOs auf der „Fortune“-500-Liste im Schnitt gute sechs Zentimeter größer als der Durchschnittsamerikaner. Und ähnliche Ergebnisse konnte bei Führungskräften aus dem Militär und bei Regierungschefs beobachtet werden.
2. Ära: Intelligenz, Erfahrung und bisherige Leistungen (IQ)
Das erinnert an den Homo Oeconomicus und seine verbale, analytische, mathematische und logische Intelligenz. Um den IQ von Kandidaten zu messen, haben sich Personalabteilungen auf Ergebnisse von Prüfungen und Tests gestützt.
Auch das beobachten wir noch häufig in HR-Abteilungen. Die Bewerbungen werden häufig von Praktikanten hinsichtlich der Schulnoten sortiert. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.
3. Ära: Kompetenz
In der dritten Ära der Talentsuche konzentrierte man sich stark auf die Kompetenzen von Kandidaten. Die Welt hat an Komplexität dazugewonnen, deshalb wird es immer schwieriger, Talent nur anhand der Ad-hoc Leistungsfähigkeit einzuschätzen. Das ist aktuell aber noch State-of-the-Art in HR-Abteilungen.
4. Ära: Potenzial
In einem volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Umfeld ist es nicht mehr möglich, Talent anhand vorhandener Kompetenzen zu beschreiben. Es geht vielmehr um die Frage, ob Mitarbeiter über das Potenzial verfügen, neue Fähigkeiten zu erlernen.
Das Potenzial setzt eine Stufe tiefer an, als Kompetenzen. Es beschreibt die psychologische Basis, quasi die persönlichkeitsimmanenten Treiber der Kompetenzen.
Das heißt: Eine fundierte Aussage über das Potenzial von Menschen ist auch schon in den frühen Stadien einer Führungskarriere möglich. Jüngere Führungskräfte haben vielleicht die gesuchten Persönlichkeitsmerkmale, hatten bisher aber noch keine Gelegenheit, ihre Kompetenzen vollumfänglich zu entwickeln. Potenziale sind also existent, unabhängig vom Alter. Das bedeutet, dass die Legitimation der Führung unabhängig vom Alter ist.
Talent erkennen
Um Talent im 21. Jahrhundert zu erkennen, bedarf es einen genauen Blick auf drei Schlüsselelemente:
- die Leistung in der Vergangenheit
- die heute demonstrierten Kompetenzen und
- das noch nicht ausgeschöpfte Potenzial für die Zukunft
Egon Zehnder hat hierzu ein Tool zur Potenzialanalyse entwickelt, das seine Validität im Praxiseinsatz inzwischen bewiesen hat. In diesem Tool werden vier Persönlichkeitsmerkmale gemessen:
- Neugier: das Streben nach neuen Erfahrungen, Wissen und ehrlichem Feedback, Offenheit für Lernen und Veränderungen
Fragen Sie nicht einfach nur, ob der Kandidat ein neugieriger Mensch ist, sondern suchen Sie lieber nach Anzeichen dafür, dass jener Wert auf kontinuierliche Weiterentwicklung legt, dass er wirklich gerne lernt und sich nach Ausrutschern schnell wieder fängt. Dabei können Ihnen folgende Fragen helfen: „Wie reagieren Sie, wenn Sie jemand in Frage stellt oder kritisiert?“, „Wie holen Sie sich Input von anderen Mitgliedern Ihres Teams?“, „Was tun Sie, um Ihren Denk- und Erfolgshorizont zu erweitern?“, „Wie fördern Sie Lernprozesse in Ihrem Unternehmen?“
- Ganzheitliches Denken: die Fähigkeit, diejenigen Informationen zu sammeln und zu interpretieren, die auf neue Chancen hindeuten
- Überzeugungskraft: die Gabe, mithilfe von Emotionen und Logik eine überzeugende Vision zu vermitteln und guten Kontakt zu anderen Menschen aufzubauen
- Entschlossenheit: die Eignung, trotz auftretender Probleme für das Erreichen schwieriger Ziele zu kämpfen und sich durch Misserfolge und Rückschläge nicht unterkriegen zu lassen
Daraus lässt sich für Bewerbungsgespräche ableiten:
- Beschäftigen Sie sich intensiv mit dem persönlichen und beruflichen Werdegang des Kandidaten, führen Sie ausführliche Gespräche oder Karrierediskussionen und prüfen Sie auch die Referenzen, um herauszufinden, ob der Bewerber die vier Eigenschaften denn auch wirklich besitzt.
- Entwickeln Sie einen standardisierten Bewerber- und Mitarbeiterbewertungsbogen (ja, Sie können auch Talente innerhalb Ihres Unternehmens neu entdecken), damit Sie Führungskräften die Macht nehmen, schlechte Kandidaten zu unterstützen und gute abzuwürgen. Amazon beispielsweise verfügt über Hunderte passionierte interne Recruiter. Außerdem gibt es dort Schulungsprogramme zur Bewerberauswahl und eine Heerschar zertifizierter „Bar-Raisers“ (= „die-Messlatte-höher-Leger“).
- Fordern Sie Führungskräfte auf, motivierten, neugierigen Kandidaten mit Scharfblick, Engagement und Entschlossenheit den Vorzug zu geben.
Fehleinschätzungen von Potenzial
Egon Zehnder hat in der Praxis Fehleinschätzungen beobachtet, die dazu führen, dass die wirklichen Potenziale nicht erkannt werden. Sie nennen sie die Fehler erster Art und zweiter Art. Fehler der ersten Art heißt: Potenziale werden nicht oder nicht frühzeitig erkannt, wodurch „ungeschliffene Diamanten“ übersehen werden. Fehler der zweiten Art heißt: Eine Führungskraft bekommt fälschlicherweise Potenzial zugesprochen oder ihr Potenzial wird total überschätzt. Das kann dazu führen, dass die falschen Leute ge- und befördert werden, während die wirklichen Talente das Unternehmen vielleicht bereits verlassen haben. Auch das kommt uns in der Praxis bekannt vor…
Mit einer Potenzialanalyse zeigt sich, wer zu den wirklichen Talenten gehört und nicht nur zu High Performern – wodurch personelle Fehinvestitionen vermieden werden können. Das ist aktuell noch häufig der Fall – also das mit den Fehlinvestitionen: Eine Studie vom Corporate Leadership Council, an der Personalchefs aus über 150 Konzernen weltweit beteiligt waren, kam zum Ergebnis, dass 93 Prozent der wirklichen Talente gleichzeitig auch High Performer waren. Aber nur 29 Prozent der High Performer auch wirkliche Führungskräfte-Talente. Ups…
Die neue Basis des Talentmanagements
Sobald Unternehmen sich auch der 4. Ära der Talenterkennung annehmen, können sie ihr Talentmanagement neu ausrichten.
- Potenzial früh identifizieren
- Individuelle Karrierechancen früh entwickeln
- Personelle Fehlinvestitionen vermeiden
- Risiken für die Organisation minimieren
Die Talente binden
Die meisten Menschen, vor allem die Wissensarbeiter, beziehen ihre Energie aus drei Grundbedürfnissen:
- Autonomie – die Freiheit, ihr Leben selbst zu gestalten. Wieviel Flexibilisierungsmöglichkeiten (Arbeitszeit, Aufgaben, Technik, Team) haben Ihre wirklichen Talente?
- Meisterschaft – das Streben nach Exzellenz. Sind Ihre Talente nur damit beschäftigt, Feuerwehr für mittelmäßige oder schlechte Mitarbeiter zu spielen? Oder haben Sie auch Kontakt zur obersten Führungsetage, um mit dem Vorstand, dem Inhaber oder CEO über zukünftige strategische Ausrichtungen zu diskutieren? Fordern Sie Ihre Talente!
- Sinn – die Sehnsucht danach, ihre Arbeit in den Dienst eines übergeordneten Zwecks zu stellen. Sorgen Sie dafür, dass die Unternehmensziele gut in Einklang gebracht werden mit den persönlichen Zielen Ihrer Talente? Werden Ihre Talente auch gerecht entlohnt? Möglicherweise auch über eine Unternehmensbeteiligung?
Irrtümer der Talententwicklung und –bindung werde ich in einem späteren Beitrag aufzeigen.
Quellen
Ich gestehe, ich habe einige Textpassagen in diesem Beitrag eins zu eins übernommen. Aber wenn Texte gut sind, erlaube ich mir, in meinem Blog von Copy & Paste Gebrauch zu machen – zumindest bei diesem hier.
- Gerhardt, Tilman; Riedel, Jens: Auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Wie sich die Leistungsträger von morgen schon heute erkennen lassen. http://www.egonzehnder.com/files/focus_potenzial_intern_i.pdf
- Blaise, Lisa (2013): Look past performance to see potential. Diversity Executive, March/April 2013. http://www.egonzehnder.com/files/look_past_performance_to_see_potential.pdf
- Fernández-Aráoz, Claudio (2014): Talentmanagement im 21. Jahrhundert, Harvard Business Manager, August 2014. http://www.egonzehnder.com/de/leadership-insights/die-bedeutung-von-potenzial-fuer-das-talentmanagement-im-21-jahrhundert.html
- Groysberg, B. & Connolly, K. (2016): Zurich Insurance: Talent Pipeline. Case Study
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