MEHR WOLLEN UND WENIGER SOLLEN: EIN PLÄDOYER
Sind wir eigentlich alle bescheuert? Job neben dem Studium. Eine Fernbeziehung, damit wir auch ja an der allerbesten Uni studieren können und uns dabei nichts im Weg steht. Dazu noch soziales und politisches Engagement: In der Fachschaft an der Uni, bei Amnesty International und in einer Partei. Und warum das alles? Machen wir das wirklich gerne oder nur für unseren Lebenslauf? Ein Gastbeitrag von Leonie Gürtler.
Ein Freund von mir arbeitet bei einer Bank in Frankfurt. Er geht um neun Uhr zur Arbeit und kommt um drei Uhr morgens zurück: ein 18-Stunden-Tag. Wochenende? Fehlanzeige. Sein Chef hat ihn gefragt, ob er auch am Sonntag arbeiten könne: „Das war nur eine rhetorische Frage. Ich hätte nicht nein sagen können.“
Freiwillige Überstunden für ein wenig Anerkennung
Warum er sich das antut? Klar, er ist jung, momentan nur Praktikant und will sich beweisen. Aber es ist nicht nur er, es sind nicht nur die Praktikanten. Auch die ranghöheren Kollegen schlagen sich die Nacht im Büro um die Ohren. Sie liefern sich einen stillen Wettbewerb: Wer als letztes geht, hat gewonnen. Wer das Licht ausmacht und die Tür abschließt, wird für sein Durchhaltevermögen bewundert. So als ob es die Qualität ihrer Arbeit ausmacht, wie lange sie im Büro sitzen.
Für den Chef ist das wunderbar: freiwillige, unbezahlte Überstunden. Und das nicht einmal mit zusammengebissenen Zähnen, sondern mit Ehrgeiz und Engagement. Verrückt. Aber 18 Stunden im Büro machen nicht effizienter und kreativer, sondern müde, unproduktiv und unkreativ.
Eigentlich bin ich die Letzte, die sich darüber beschweren darf. Ich bin selbst das Paradebeispiel eines Workaholics: drei Bachelorstudiengänge gleichzeitig, nebenbei arbeiten und dann auch noch Freunde in meinem Leben unterkriegen. Ich sage immer: Ich kann es nicht ertragen, nichts zu tun. Und da bin ich wohl nicht die Einzige – das habe ich auch schon von Kommilitonen gehört.
Ja, einerseits ist das irgendwie krank. Andererseits machen wir es, weil wir es gerne tun. Es gibt Menschen, die gerne arbeiten, die gerne abends im Bett noch ihre Mails lesen und sich freuen, wenn sie morgens aufwachen und eine lange To-Do-Liste haben. Ich zähle mich dazu. Aber die Grenze zwischen denen, die es wirklich gerne tun und denen, die sich einreden, es gerne zu tun, um mit den anderen mitzuhalten, verschwimmt.
Hauptsache Akademiker
Aber wer nicht mithält, der ist eben raus. Bleiben wir beim Studieren. Ich bin mit fünf Jahren eingeschult worden und hatte mit 17 mein Abitur in der Tasche. Plötzlich war ich aber nicht mehr die Einzige. Ein Jahr nach mir fing eine Welle von minderjährigen Abiturienten an der Uni an und ich habe mich gefragt: Wieso? Werden jetzt alle früher eingeschult? Überspringen alle eine Klasse? Allein G8 ist jedenfalls nicht der Grund dafür. [Kleine Nebenrechnung im Normalfall: Mit sechs eingeschult, 12 Jahre Schule – ergibt 18 beim Abitur. Und das ist nicht mehr minderjährig.]
Eine meiner Schulfreundinnen wollte zur Feuerwehr. Das war immer ihr Wunsch. Ihre Eltern waren überzeugt, dass sie studieren müsse. Sie hat es gemacht: Finanzmathematik. Drei Jahre, dann hatte sie ihren Bachelor – und ist zur Feuerwehr gegangen. Ob es jetzt drei verlorene Jahre waren, weiß ich nicht. Aber es war nicht das, was sie machen wollte. Sie hat sich ihren Traum erfüllt, aber andere werden vielleicht Steuerberater und sind ihr Leben lang unglücklich. Und warum? Weil sie Akademiker geworden sind, obwohl sie viel lieber mit ihren Händen arbeiten.
Höher, schneller, weiter
Man muss nur mal in Stellenanzeigen schauen – ohne Bachelorabschluss gibt es fast keinen Job mehr. Und dann ist der Bachelor natürlich nicht genug. Höre ich mich in meinem Freundeskreis um, ist für fast jeden klar: Nur ein Bachelor ist nichts wert, ich mache auf jeden Fall einen Master. Wie soll das noch weitergehen? Ist irgendwann kein Abschluss mehr etwas wert? Machen wir in Zukunft alle unseren Doktor, nur um mitzuhalten?
Aber natürlich geht es nicht nur um den Abschluss. Es geht auch um die Noten. Wenn schon jeder einen Bachelor hat, dann muss man natürlich den besten haben. Und den, für den man am meisten geackert hat. Wir machen Auslandssemester, engagieren uns in der Fachschaft und in irgendwelchen sozialen Organisationen. Wir arbeiten nebenbei und machen im Sommer Praktika – meistens sogar unbezahlt. Alles für einen hübschen Lebenslauf.
Auch Freizeit ist eine Verpflichtung
Semesterferien sind keine Ferien mehr, sondern Zeit zum Lernen, Hausarbeiten oder Praktika. Wir ärgern uns, wenn wir nicht produktiv waren und können unsere freie Zeit nicht mehr genießen. Als ich jünger war, habe ich zu meiner Mutter gesagt: „Mama, ich will auch mal Freizeit haben.“ Und sie hat mich gefragt: „Was ist denn Freizeit für dich?“ Ich konnte ihr keine Antwort geben. Aber meine Reitstunden und der Flamenco-Unterricht haben sich jedenfalls nicht so angefühlt: Es waren eben auch Verpflichtungen.
Und das hat sich bis heute nicht geändert. Ich kann noch immer keine Freizeit haben. Jedenfalls keine, die ich als solche definiere. Es gibt immer irgendetwas zu tun, irgendeine Verpflichtung. Und wenn ich abends im Bett liege und einen Film anschaue, ist das keine Freizeit, sondern Zeit, die ich mir nehmen muss, um mich zu erholen: Auch irgendwie eine Verpflichtung.
Qualität statt Quantität
Mal ganz ernsthaft: Wir müssen einfach alle einen Gang zurückschalten. Die Zeit, die wir haben, genießen. Einen Bachelor als gute Bildung ansehen. Die Sachen, die wir machen lieber mit Leidenschaft machen, ans
Ich habe schon von einigen Kommilitonen, die Wirtschaft als Nebenfach haben, die Sätze gehört: „Ach, ich mache am besten Human Resources Management, das soll ja ziemlich leicht sein.“ Warum entscheidet ihr danach, was leicht ist? Noch extremer ist das wohl bei denen, die “nur” Wirtschaftswissenschaften studieren. Human Resources Management Kurse sind übervoll, Finanzen oder VWL-Kurse machen die wenigsten. Die “leichten” Kurse sind eben die gefragtesten. Entscheidet doch danach, was euch liegt, danach, was ihr wollt und was euch Spaß macht! Und wenn ihr Wirtschaft eigentlich nur studiert, weil es im Lebenslauf gut aussieht, dann macht einfach etwas Anderes. Ich jedenfalls habe es satt, in Wirtschafts-Seminaren zu sitzen und mit dem Professor einen Dialog zu führen, weil alle anderen entweder überhaupt nichts verstehen, es sie nicht interessiert oder sie nur Wissen aufnehmen wollen, aber nicht das geringste Bedürfnis haben, es zu hinterfragen.
Ich habe mein Studium zweimal abgebrochen. Jetzt habe ich jedenfalls gefunden, was ich wirklich machen will, anstatt mich einfach durch irgendwas durchzubeißen. Kommen die abgebrochenen Studien schlecht im Lebenslauf rüber? Nein. Vielleicht stolpert ja eher jemand darüber und findet es spannend. Und wenn es schlecht rüberkommt, dann ist mir das egal. Denn ich habe es nicht deshalb gemacht.
Mein Freund macht seinen Bachelor in fünf statt vier Jahren – ja und? Tut es ihm weh, nicht in der Regelstudienzeit zu bleiben? Nein. Er hat vielleicht länger dafür gebraucht, aber er hat verstanden, was er gelernt hat und er weiß es auch zwei Jahre später noch. Er hatte die Zeit, sich tiefer in Themen einzuarbeiten und Dinge zu hinterfragen. Die Zeit hat er sich einfach genommen. Und wenn das negativ angesehen ist, dann ist eindeutig etwas an der Gesellschaft und dem Bildungssystem falsch.
Nichts ist unmöglich
Wir haben eine Gesellschaft, in der alles möglich ist (Welt der Multioptionalität). Wir müssen nicht mehr arbeiten, um zu überleben, wir können das machen, was wir wollen. Aber wir machen es nicht. Vor Jahren hätten sich die Menschen nur so darum gerissen, in solch einer Welt zu leben. Wir haben sie und machen nichts daraus.
Wir alle können in der ersten Reihe stehen. Wir können die sein, die Spezialisten auf einem Gebiet sein, die nach Rat gefragt werden. Aber nur, wenn wir das machen, was wir wirklich können und wollen; nicht das, was jemand anderes von uns will. Und schon gar nicht, wenn wir alles nur machen, weil die Gesellschaft es von uns verlangt.
Autorin: Leonie Gürtler
Beitragsbild: flickr.com/tasty_goldfish/
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